Notwendig statt ‚nice to have‘: Mitgefühl in der Wirtschaft. Eine Buchbesprechung.

Singer_Ricard_MitgefuehlTania Singer, Matthieu Ricard
Mitgefühl in der Wirtschaft. Ein bahnbrechender Forschungsbericht.
Albrecht Knaus Verlag, München, 2015

Zahlen statt Menschen. Verstand statt Gefühl. Kampf statt Kooperation. Eigennutz statt Altruismus. Wer sich dafür interessiert und sich ein wenig umschaut, umhört, stellt fest: Diese Sicht auf Organisationen ist sukzessive dabei, ihre jahrhundertelange Hoheit über die Art und Weise, wie Unternehmen geführt werden, zu verlieren. Der Homo Oeconomicus ist – in seiner klassischen Definition als weitestgehend auf sich selbst bezogener Nutzenmaximierer – eine aussterbende Art. Altruismus (eine Geisteshaltung, die das Wohl anderer fokussiert und das Ego hintenanstellt) gilt nicht länger als seltene Anomalie innerhalb der Wirtschaft. Warum all das nicht nur ethisch begrüßenswert, sondern auch aus wissenschaftlicher Sicht notwendig ist, darum geht es in Mitgefühl in der Wirtschaft, einem in diesem Jahr erschienenen, kurzweiligen und leicht verständlichen Bericht. Herausgeber und Co-Autoren sind Tania Singer vom Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften in Leipzig, und Mattieu Ricard, ein promovierter Physiker, der heute als buddhistischer Mönch, Französischübersetzer, Fotograf und eben Buchautor (wow, was für eine Kombination!) in Kathmandu lebt.

Das Buch fasst in 14 Kapiteln auf 250 Seiten die Arbeitsergebnisse einer Tagung des Mind and Life Institutes aus dem Jahr 2010 zusammen. Wem dieses Institut – so wie mir vorher, leider – nichts sagt: Es wurde 1987 von drei Personen gegründet: dem Neurowissenschaftler Francisco Varela (†), dem Unternehmer Adam Engle und dem Dalai Lama. Das Ziel ist ein offener Dialog und eine interdisziplinäre Forschungszusammenarbeit mit dem Sinn, Leid zu minimieren und Wohlergehen auf der Welt zu vermehren. Der Band ergänzt eine Reihe von zwölf weiteren, die seitdem die Konferenzen des Mind and Life Institutes dokumentiert haben.

Zurück ins Jahr 2010, zurück in die Zukunft unserer Wirtschaft – ja, ich glaube daran, ja, ich arbeite selbst darauf hin, nein, ich bin kein Buddhist. Also: Vor dem Hintergrund der Finanzkrise trafen sich Psychologen, Wirtschafts-, Sozial- und Neurowissenschaftler mit dem Dalai Lama in Zürich, um über ein neues ökonomisches Denken zu sprechen.

Singer erläutert, dass viele Teilnehmer kritisch waren und sich fragten, ob kontemplative Denk- und Lebensweisen überhaupt etwas zu Wirtschaftsbelangen beitragen könnten? Ein gemeinsamer Nenner zwischen Minderung von Leid sowie innerer Balance auf der einen, und Profitstreben und Wirtschaftswachstum auf der anderen Seite war jedoch bald gefunden: es geht überall darum, dass Menschen UND Gesellschaften glücklicher sind und aufblühen.

Aus dem Inhalt
Die Konferenzteilnehmer beschreiben in Mitgefühl in der Wirtschaft die Schwierigkeiten, vor der die Welt steht, weil es an Empathie (die Fähigkeit bzw. die Bereitschaft, sich in die Denk- und Gefühlswelt anderer Menschen hineinzuversetzen) und Altruismus sowie an inneren Werten mangelt. Die zentrale Frage ist, ob und wie wir Probleme wie psychischen Stress, Armut, Arbeitslosigkeit oder mangelnde Bildung und Grundversorgung auf dem Weg einer weltlichen Ethik lösen können. Wenn die Religionen im Extremismus aufgehen (und seit der Konferenz in 2010 ist leider einiges geschehen …) oder einfach ziemlich vielen Menschen keine Orientierung mehr bieten. Der Dalai Lama trägt dazu bei, welche wissenschaftlich gestützten Elemente des Buddhismus sich zum Zwecke der global-wirtschaftlichen Problemlösung in die nichtbuddhistische Welt übertragen lassen.

Mitgefühl, Empathie oder Mitleid?
Ich möchte kurz – wie es auch im Buch gemacht wird – den Unterschied erläutern, um Irritationen vorzubeugen. Bei Empathie geht es darum, sich in eine andere Person (und übrigens auch reflektierend in sich selbst) hineinversetzen zu können: wie sie die Welt sieht, was sie erlebt und dabei fühlt. Voraussetzung hierfür ist empathische Ansteckung, ein klassisches Beispiel für die Funktionsweise der Spiegelneuronen in unserem Gehirn – eine Person gähnt, eine andere verspürt automatisch kurz darauf ebenfalls den Impuls, zu gähnen. Empathie funktioniert übrigens auch ohne Sympathie.

Im Mitgefühl (der Autor nennt es auch empathische Anteilnahme), das quasi aus einer Kombination von Empathie und Sympathie heraus entsteht, erwächst der starke Wunsch, zu helfen, zu geben, Bedürfnisse zu erfüllen und zu diesem Zweck Strategien zu entwickeln.

Der Unterschied zwischen Mitleid und Mitgefühl besteht übrigens in der emotionalen Beteiligung. Im Mitleid mache ich das Leid des anderen zu meinem eigenen und bin dann häufig nicht mehr in der Lage, angemessen zu handeln oder sogar zu helfen, weil mein eigenes, adaptiertes Leid mich beschäftigt und gefangen hält. Im Arbeits- wie im sonstigen Leben sicherlich kein wünschenswerter Zustand.

Ein Überblick über Aufbau und Kapitel
A. Im vorderen Teil des Buches geht es um Sinn oder Unsinn altruistischen Verhaltens vs. eigennützigen Verhaltens und die Sicht unterschiedlicher Wissenschaften auf Altruismus. Werden wir durch etwas anderes als Eigeninteresse motiviert? (Ich habe es schon verraten: ja!) Was sagt die moderne Hirnforschung zum Thema Empathie, was sind die neuronalen Grundlagen von Mitgefühl? Und kann man das steuern?

B. Der Mittelteil betrachtet Mitgefühl und Altruismus im Kontext wirtschaftswissenschaftlicher Forschung: In wie weit vertrauen Menschen auf Altruismus und wie funktioniert eigentlich altruistische Sanktionierung? Hier geht es auch darum, wie all die Theorie in der Praxis aussehen kann. Kernaussagen: Eine dauerhaft gelingende Ökonomie umfasst äußere UND innere Werte. „Jeder von uns strebt nach Glück und versucht, Leid zu vermeiden; und diese gemeinsame Grundmotivation stellt uns alle gleich“, schreibt John Dunne in Kapitel 7.

C. Teil drei fasst das Bisherige zusammen. Hier gibt es Leitlinien für die Zukunft der geistig-emotionalen Entwicklung in der Arbeitswelt sowie ein Kapitel über Mitgefühl bei Führungskräften – „kein Luxus, sondern eine unverzichtbare Notwendigkeit für das Überleben der Menschheit“ (Joan Halifax).

Botschaften an die Leser
Das Ergebnis der Lektüre ist eine gute Nachricht: Altruismus ist tief im menschlichen Gehirn verankert! Der Mensch hat auch in fortgeschrittenem Alter noch die Möglichkeit, sich selbst auf positiv-mitfühlend zu programmieren, um sich selbst und andere glücklicher zu machen. Mitgefühl verhilft uns zu innerer Stärke. Es bringt uns und anderen Vorteile. Wahres Glück liegt weniger im Materiellen (hier ist ab einem bestimmten Einkommen Schluss mit einer subjektiv wahrnehmbaren Steigerung des Wohlbefindens) denn in den gelingenden Beziehungen zu anderen Menschen. Den Autoren zufolge – und dies halte ich für die beste Botschaft dieses Buches! – nehmen die Erkenntnisse der anderen Forschungszweige bezüglich Empathie und Mitgefühl zunehmend Einzug in die Wirtschaftswissenschaften. Die damit ihren Ruf als „trostlose Wissenschaft“ überholt haben dürfte.

Mein Highlight
In Kapitel 13 stellt Sozialaktivist Bunker Roy das Barefoot College vor, eine außerschulische Bildungsalternative in ländlichen indischen Regionen sowie in Afghanistan. Unvergesslich: Der Besuch der zwölfjährigen Premierministerin des Kinderparlaments (!) des Colleges bei der schwedischen Königin! Es geht beim Barefoot College nicht etwa darum, wie Analphabeten Lesen und Schreiben beigebracht wird, sondern wie diese Analphabeten, insbesondere Frauen, erfolgreich zu Elektroingenieurinnen, Ärztinnen, Lehrerinnen oder Expertinnen für Solaranlagen ausgebildet werden.

Kritik: Es kommt nicht nur auf die inneren Werte an!
Gut fand ich, dass sämtliche Fragen im Verlauf des Buches nicht nur erörtert und beantwortet, sondern durch jede Menge gut aufbereitete Forschungsergebnisse und anschauliche Beispiele belegt werden. Man hat vielleicht beim Wort „Forschungsbericht“ ein wenig die Befürchtung, die Lektüre könnte langweilig und trocken sein, doch ich fand es einfach nur wahnsinnig spannend und wichtig! Das Buch ist inhaltlich schlüssig aufgebaut, ansprechend und leserlich formatiert.

Ich weiß, ich müsste jetzt noch schreiben, was mir nicht so gut gefallen hat. Aber abgesehen von meiner persönlichen Interessenslage, die das ein oder andere Thema favorisiert (ich gebe zu, Kapitel 5 über Altruismus bei Primaten und Kapitel 9 über Spendenbereitschaft habe ich übersprungen), fällt mir nichts ein. Oh, doch: die Farbe Pink und die Ü-Punkt-Herzchen hätte sich der Knaus-Verlag bei der Titelblattgestaltung wirklich sparen können!!! Das impliziert gleich wieder, Mitgefühl sei Mädchensache und wir müssen uns alle lieb haben, und diese Ansichten fände ich in der Tat fatal!

Weshalb ich dieses Buch gekauft habe – und darüber schreibe
Unterm Strich geht es in diesem Buch wie auch bei meiner Arbeit als Coach und Kommunikationstrainerin darum, Leid zu minimieren. Im Business-Kontext unserer Wohlstandsgesellschaft mag „Leid“ ein starker Begriff sein, dem ein oder anderen vielleicht zu stark. Ich denke dabei jedoch an das, was viele Menschen tagtäglich erfahren, wenn beispielsweise folgende Punkte das Leben am Arbeitsplatz ausmachen:

  • es mangelt an Empathie, Mitgefühl, Respekt und Wertschätzung
  • die Bereitschaft zu Lernen wird unterdrückt bzw. es gibt eine Fehlerkultur anstelle einer Kultur des Lernens
  • es gibt kaum Möglichkeit, sich zu entfalten und Ideen einzubringen
  • Funktionieren müssen ist angesagt
  • die Abspaltung vom Menschsein (sprich: vom Denken, Fühlen und Brauchen!) wird erwartet
  • etc.

Wer will sowas und wie häufig ist es anzutreffen? Leidet man nicht unter solchen Arbeitsverhältnissen? Was ist das Gegenteil von Leid? Spontan fallen mir dazu ein: Wohlergehen, Freude, Zufriedenheit, Glück. Und was brauchen wir, um gute Leistungen zu erzielen? Na? Genau dies. Ok, ein bisschen Druck, entstanden aus einer nach Möglichkeit intrinsischen Motivationshaltung heraus, darf sein und wird sich realistisch gesehen auch nicht ganz verhindern lassen, doch sollte sich niemand auf der Arbeit dauerhaft beweisen müssen, besonders leidensfähig zu sein.

„Wenn wir wollen, dass unsere Welt besser wird, dann müssen wir unsere [mitfühlende und] altruistische Natur anerkennen“, fasst Ernst Fehr, Professor für Mikroökonomik, auf S. 221 zusammen. Ein Schlusswort, dass vor dem Hintergrund der aktuellen globalen terroristischen und menschenfeindlichen Geschehnisse nicht oft genug in die Welt getragen werden kann. Fangen wir mit der besseren Welt bei uns selbst und in unseren beruflichen Wirkungsstätten an!?

Mein Fazit
Kaufen, lesen, weitersagen oder weitere Exemplare verschenken!

Sylvia_PietzkoÜber die Verfasserin

Sylvia Pietzko ist Business Coach, Trainerin und Autorin des Ratgebers Win-Win dank Empathie: Erfolgreich kommunizieren im Job. Durch ihre beruflichen Wurzeln als Mediendesignerin und PR-Beraterin wendet Sie sich mit ihrer heutigen Arbeit besonders an „alle, die was mit Medien machen“. Sie engagiert sich für eine werteverbundene Wirtschaft, die den Mensch zum Mittelpunkt macht. Mehr auf www.comino.de.

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