Post aus der Vergangenheit

Stafflenbergstrasse Bild 1 Vor einigen Wochen erreichte die Sympraner ein Brief. Der Inhalt? Eine Postkarte aus dem Jahr 1912 mit altdeutscher Schrift auf der einen und einem Foto der Stafflenbergstraße 32 auf der anderen Seite. Warum das für uns so interessant ist? Die Stafflenbergstraße 32 ist das Haus, in dem wir jeden Tag arbeiten und kommunizieren. Eine Dame hatte die Karte in ihrem Bestand gefunden und gefragt, ob wir Interesse daran hätten. Unsere Antwort: „Aber sicher doch!“ Während alle zusammen versuchten, die Sütterlinschrift zu entziffern, entwickelte sich am Mittagstisch ein angeregter Austausch über Erlebnisse und Erfahrungen mit und in diesem alten Gemäuer. Bei all den Diskussionen fiel uns dann auch auf, dass wir noch nie etwas zu „unserer“ wunderschönen 110-jährigen Jugendstilvilla auf der Gänsheide veröffentlicht haben. So – und das soll sich hiermit ändern… Wer zum ersten Mal die Stafflenbergstraße 32 betritt, ist meist beeindruckt. „Mensch, hier lässt es sich echt aushalten“ – waren auch meine ersten Worte, als ich zum Vorstellungsgespräch rein kam. Den Reaktionen zufolge geht es so auch vielen anderen Besuchern, die über die Steintreppe am plätschernden Brunnen vorbei, in die Haupthalle des dreigeschossigen Gebäudes hochkommen.

Idylle am Rande des Kessels
Am Stafflenberg, von dem die Straße ihren Namen bekam (abgeleitet von den typischen Stuttgarter „Stäffele“), war früher Stuttgarts erster Steinbruch angesiedelt, der in Schriften des Stuttgarter Stadtarchivs schon im Jahr 1350 zum ersten Mal Erwähnung fand. (Interessante Nebeninformation: Der Kölner Dom wurde 1850 mit Steinen eben dieses Steinbruchs fertig gestellt.) Der Steinbruch ist längst Geschichte und anstelle dessen schmücken den Stafflenberg jetzt wunderschöne Gebäude mit Erkern, aufwändig gestalteten Balkonen und weitläufigen Gärten. Die Villen an der Stafflenbergstraße und der gesamten Gänsheide – das ist das Gebiet zwischen Geroksruhe und Uhlandshöhe – wurden meist aus hellgrauem Sandstein gebaut. Anfangs boten sie vor allem Fabrikanten, Direktoren und hohen Beamten ein Zuhause mit atemberaubender Sicht auf die Stuttgarter Innenstadt. Nicht zuletzt die Villa Reitzenstein, Amtssitz des Ministerpräsidenten, befindet sich in der Nachbarschaft. Jörg Kurz, ein Stuttgarter Stadthistoriker stellt in seinem Buch über die Gänsheide fest: „Ganz nah liegt dieses Gebiet der Stuttgarter Innenstadt und ist doch eine ganz andere Welt.“ Genau diesen Eindruck bekommt man wenn man hier aus dem Fenster in Richtung Schlossplatz oder Hauptbahnhof schaut, dabei die Vögel zwitschern hört und nur ganz entfernt die Autos von der Hohenheimer Straße wahrnimmt. Auch wenn man die Eichhörnchen im Garten umherspringen sieht, vergisst man fast, dass man sich eigentlich mitten in der Landeshauptstadt befindet.

Wir waren nicht die Ersten hier
Über ein Jahrhundert lang steht die Villa nun schon an der Halbhöhenlage. Die Sympraner, die 2002 hier einzogen, waren also nicht die ersten. Doch wer war vor uns da? Geplant und erbaut wurde das Haus vom Architekten Albert Eitel, der auch für viele weitere Stuttgarter Bauten verantwortlich ist: Das Alte Schauspielhaus, das Gebäude des heutigen Stuttgarter Arbeitsgerichts, das Karl-Olga-Krankenhaus und das auffallend rote Gebäude an der Bolzstraße, das früher der Stuttgarter Hauptbahnhof war und in dem heute das Kino Metropol angesiedelt ist. Albert Eitel hat „unser“ Haus im Jahr 1904 fertiggestellt, damals für den Rittmeister Willy Schönwetter. Wie lange die Familie Schönwetter in der 13-Zimmer-Villa gewohnt hatte, wissen wir nicht genau. Aber hier kommt die Postkarte wieder ins Spiel!

Postkarte Lupe
1912: Christian Völter mit seiner Frau Auguste, Tochter Inne und dem Hund der Familie

Datiert ist die Postkarte nämlich auf den 6. März 1912 und unterschrieben hat sie ein Christian Völter, der laut Angaben des Stadtarchivs Stuttgart erst ab 1915 in der Stafflenbergstraße 32 gewohnt haben soll. Da kann unsere Postkarte wohl eine Informationslücke des Stadtarchivs schließen.
Update (4. Juli 2014): Wie wir mittlerweile vom Archivar der Stadt Metzingen erfahren haben, stammt die Karte tatsächlich von Christian Völter, Teilhaber der Tuchfabrik Gaenslen & Völter, der nach seinem Ausscheiden aus dem Unternehmen nach Stuttgart zog. Hier ist er 1932 dann verstorben und hat höchstwahrscheinlich bis zu seinem Tode in dem Anwesen  gewohnt. Die Karte zeigt nicht nur das Gebäude, sondern auch den damaligen Hausherren mit seiner Frau Auguste, seine Tochter Inne und dem Hund der Familie. Nach Familie Völter, die das Haus als reines Wohnhaus nutzte, folgte mit einem Zahnarzt und seiner Praxis auch der erste gewerbliche Nutzer. Vom Zweiten Weltkrieg unbeschadet, diente die Villa nach Ende des Krieges als Sitz der amerikanischen Militärregierung. Mitte des letzten Jahrhunderts zogen dann die Stuttgarter Ordnungshüter (Polizeipräsidium, Ordnungsamt und Landespolizeidirektion) in die Stafflenbergstraße 32 ein. Ende der 50er stand das Haus zum Verkauf, und unsere jetzigen Vermieter erwarben das Gebäude. Sie nutzten die Villa selbst jedoch nie als Wohnhaus, sondern als Ingenieurbüro. Ende der 1960er-Jahre überwog dann eindeutig der Männeranteil im Haus – denn in dieser Zeit ließ sich das technische Lehrinstitut Stuttgart in den Räumen nieder. Die Villa ist mit ihren vielen Zimmern zwar wirklich geräumig, trotzdem ist es nur schwer vorstellbar, wie hier bis zu 200 (ausschließlich männliche) Schüler unterrichtet wurden. Die Schulglocke in der Haupthalle, die Urinale in den Waschräumen und die verstaubten Schultafeln im Gewölbekeller erinnern heute noch an diese Zeit.

Nicht nur die Zeiten und Bewohner änderten sich, auch die Geschmäcker
In den letzten über hundert Jahren wurde in Folge dessen so einiges am und im Haus verändert bzw. modernisiert – leider nicht immer zum Vorteil des Hauses: Laut Plänen gab es ein wunderschönes Marmorbad – was dann neuem 60er-Jahre Schick und 08/15-Fliesen weichen musste, weil es halt praktischer war. Vieles davon hätten die Sympraner im Rückblick oft gerne rückgängig gemacht. Und wenn man sich mal auf der Postkarte die wunderschönen Fenster ansieht, die die Villa ursprünglich schmückten, stellt sich die Frage: Können die jetzigen Kunststofffenster da überhaupt noch mithalten? Ganz abgesehen von der Holzvertäfelung in den Giebeln, die nach dem Aufheben des Denkmalschutzes entfernt wurde. Zurück in der Gegenwart Die hohen Wände, die hellen Räume, der riesige Garten rund ums Haus, die wechselnden Kunstausstellungen in der Villa, die interessante Vorgeschichte und der wunderschöne Ausblick machen das Arbeiten in einem der wohl herrschaftlichsten Häuser, in denen ich je an einem PC saß, zu etwas ganz Besonderem.

Bild für Blogeintrag Stafflenberg32
Die Stafflenbergstraße 32 wie wir sie kennen.